INTERVIEW

mit Martin Farkas und Matthias Zuber für das Presseheft zu DEUTSCHE SEELEN

Wie sind Sie auf das Thema „Colonia Dignidad“ gestoßen?

Mathias Zuber: Ich kannte die Autorin Britta Buchholz von der Berliner Journalistenschule, wo ich unterrichte. Sie war damals 2005 in Chile als Paul Schäfer, der ehemalige Sektenchef, in Argentinien verhaftet wurde. Britta fuhr auf gut Glück in die ehemalige Colonia Dignidad, um für „Die Zeit“ eine Geschichte zu machen. Sie war eine der ersten freien Journalistinnen, die nach Jahrzehnten der Isolation freien Zugang in die ehemalige Sekte bekam. Sie lernte neben anderen die Familie Schnellenkamp kennen. Nach ihrer Recherche rief sie mich noch aus Chile an, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr einen Film über die Situation vor Ort zu machen. Ende 2005 war ich dann das erste Mal selbst mit Britta vor Ort und lernte einige der Menschen in der ehemaligen Colonia Dignidad kennen. Martin Farkas: Ich habe Mitte der 80er Jahre zum ersten Mal von der Colonia Dignidad gehört. Seitdem haben mich die Berichte darüber sehr interessiert. Ich sah dort Übereinstimmungen mit meiner persönlichen Geschichte. Ich bin großgeworden in einer sehr engagierten religiösen Gemeinschaft, deren strenge Werte und Regeln wir als Kinder und auch noch als Jugendliche nicht hinterfragen konnten. Auch wir erlebten uns als Beauftragte und Auserwählte. Für mich war die Lösung aus dieser Bewegung als junger Erwachsener extrem schwer, im Grunde begleitet sie mich bis heute. Als Matthias mir das Thema vorschlug, war mir schnell klar, dass ich dazu mehr beizutragen habe als „nur“ als Kameramann. So kamen wir zu dem Beschluss, die Regie gemeinsam zu machen. Matthias mit seinem eher theoretischen Ansatz und ich mit dem persönlichen. Die meisten Menschen, die wir in dem Film sehen, sind von Kindheit in einem System sozialisiert, das sie nie hinterfragen durften. Denn das pure Fragen stellen hatte bereits brutale Bestrafung zur Folge, die eben nicht nur physisch sondern auch psychische Folterung war. Und heute leben diese Menschen immer noch mit ihren Folterern zusammen. Die das gemacht haben, waren aber auch Elternersatz. Die Opfer kannten es nicht anders. Und erst seit kurzer Zeit, erst seit Paul Schäfer im Gefängnis ist, beginnen sie nach und nach zu verstehen, was mit ihnen passiert ist. Wir haben ganz bewusst nicht über Menschen erzählt, die sich daraus gelöst haben, die gibt es ja auch, die haben „ihre Wurzeln“ damit abgeschnitten. Das ist ganz merkwürdig, aber es scheint keine Heilung möglich im schlichten Weggehen. Zu sehr sind sie geprägt. Und darum wollten wir untersuchen, wie das geht, dass man langsam in der Gemeinschaft nach Lösungen sucht. Das ist ungeheuer schwer und schmerzhaft.

 Was hat Sie daran gereizt, einen Film über dieses Thema zu machen?

Martin Farkas: Wenn man den Gedanken weiter fasst, hat mich die Konstellation in der Villa Baviera erinnert an die Zeit nach 45 in Deutschland. Hier die Täter, dort die Opfer. Der Wunsch, sich für eine bessere Welt zu engagieren und dafür ganz viel aufzugeben, sich einer Gemeinschaft anzuschließen, sich in hierarchisch religiöse Strukturen zu begeben, diese nicht zu sehr zu hinterfragen, um des gemeinsamen Ideals Willen. Die Punkte zu suchen, wo das bricht, die zu beschreiben, zu verstehen, schien mir ein sehr geeignetes Thema für einen Dokumentarfilm zu sein. Matthias Zuber: Ich war fasziniert von dem Phänomen, dass Menschen über vierzig Jahre in einer parallelen Welt eingeschlossen waren, in einem - für uns - absurden und perversen Wertesystem, das aber für diese Menschen normal war. Ein großes, perverses Menschenexperiment. Anhand dieses Phänomens lassen sich eine Menge spannender Fragen stellen: Sind ethische Systeme schlicht Erziehungssache? Ist Widerstand dann überhaupt möglich? Gerade eingebettet in die Geschichte des Dritten Reichs ist die Frage spannend in Hinsicht auf die Verantwortung des Einzelnen in einer Diktatur. Die Menschen in der ehemaligen Colonia Dignidad dachten - jedenfalls viele davon - dass sie das Richtige, das „Gute“ tun. Dass sie sogar die „Brautgemeinde Christi“ sind. In dieser Überzeugung errichteten sie ein Terrorregime. Ein Phänomen, das sich in vielen Staaten und Gruppen beobachten lässt, die den Gottesstaat auf Erden realisieren oder schlicht eine andere Ideologie in einem sozialen Gefüge radikal materialisieren wollen. Auf einer weniger theoretischen Ebene war ich schlicht berührt von den Schicksalen und dem Leid einiger Menschen in der ehemaligen Colonia Dignidad. Und ich fragte mich, wie es möglich ist, nach diesen Erlebnissen von Opfersein, aber auch Tätersein gemeinsam weiterzuleben. Das hat mich gereizt, zu erfahren. Martin Farkas: Für mich ging es schon auch um eine Reise ins „Herz der Finsternis“. Im Nachhinein betrachtet vielleicht auch darum, ob ich das aushalten, ob ich da bestehen kann... Vielleicht eine Angstlust daran, dem „Bösen“ in die Augen zu schauen. Ja, und es ging mir um ein Grundthema, das mich interessiert: der Einzelne in der Gemeinschaft. Die Abhängigkeiten und individuellen Möglichkeiten. In der Villa Baviera, wie sich die Colonia heute nennt, wird das alles verschärft, weil es kein Außen gibt. Eigentlich selbst heute noch nicht, weil diese extreme Erfahrung niemand teilen kann.

 Haben Sie zu diesem Themenkomplex auch einen eigenen biografischen Bezug?

Matthias Zuber: Natürlich „finden“ einen diese Art von Themen nicht zufällig. Es gibt in mir zum einen einen starken Ekel vor physischer, staatlicher oder institutioneller Repression in allen ihren Ausprägungen. Zum anderen hat Gewalt als Thema für mich recht offen auf einer fiktionalen Ebene eine starke Anziehungskraft. Auch in den wenigen Momenten in meinem Leben, in denen ich mit realer Gewalt konfrontiert war, erlebte ich diese Ereignisse, wie schmerzhaft sie auch immer für mich waren, als stark. Ich hatte den Eindruck, dass sie mir einen Teil meiner Existenz zugänglich machten, der sonst begraben ist unter einem Haufen von zivilisatorisch-ethischen Mechanismen. Erst sehr spät und im Nachhinein erkannte ich den Zusammenhang zwischen der Faszination und dem Ekel. Zum einen erlebte ich Gewalt als etwas, das zum Menschen, zu mir, gehört, aber in meiner persönlichen wie gesellschaftlichen Erziehung ausgeklammert wurde, verschoben wurde in das Reich des Asozialen. In diesem Bereich brodelte es vor sich hin - in mir und in der Gesellschaft. Auf der anderen Seite erlebte ich implizite wie explizite Gewalt im Gesellschaftlichen, die zwar irgendwie ethisch, gesetzmäßig begründet, in Wirklichkeit Vorwand ist, für ganz persönliche, sadistische Zustände und Aktionen. Erst ein Satz von Slavoj Zisek machte mir den Zusammenhang verständlich: „Das Unbewusste ist nicht geheimer Widerstand gegen das Gesetzt, sondern das Gesetz selbst!“ Gesellschaftlich legitimierte Gewalt dient nie ausschließlich dem vorgegeben Zweck wie Bestrafung, Prävention oder Ordnung, sondern ist immer auch und im größeren Maße psychischer Affekt. Der Ekel resultierte - so sehe ich das heute - aus der Diskrepanz, dass die Gesellschaft einerseits Gewalt ächtet, anderseits monopolisiert und Menschen innerhalb des Systems die Möglichkeit gibt, exzessiv Gewalt, körperliche wie institutionelle, auszuüben. Und das ohne, dass diese sich vorher mit dem eigenen Potential zur Gewalt auseinandergesetzt haben. Deshalb wächst sie manchmal zu ekelhaften Ungeheuern.

 Beschreiben Sie bitte, wie Sie die ersten Tage in der ehemaligen Colonia Dignidad wahrgenommen haben, wie Sie sich gefühlt haben dort und wie die Menschen auf Sie reagierten.

Martin Farkas: Wir kamen auf dieses unendlich weitläufige, überraschend unübersichtliche Gelände. Bekamen Zimmer im Krankenhaus, das von der chilenischen Regierung geschlossen worden war. Wir waren vorsichtig, auch ein wenig ängstlich. Das ging auch bis zum Ende nicht ganz weg. Als wir in der Nacht einmal in der Nähe Schüsse hörten, löschten wir das Licht im Zimmer. Am nächsten Tag, stellte sich heraus, dass einer auf Hasen geschossen hatte. Aber gleichzeitig hat einen die Weitläufigkeit, die unglaubliche Schönheit der Landschaft, der Pioniergeist und dieses in-einer-anderen-Zeit-Leben auch gerührt und berührt. Das hat uns das Gefühl der Bewohner, nur so - an diesem Ort leben zu können, nachvollziehbarer gemacht. Wir waren sehr besorgt, ob es überhaupt möglich wäre, mit den Menschen in einen ernsthaften Kontakt zu kommen und den dann auch noch filmen zu können. Wir bekamen zu Beginn einen extra Essensraum zugewiesen, um nicht zu „stören“. Die ersten, denen wir begegneten, wirkten sehr vorsichtig und verschüchtert. Gleichzeitig wurden wir sehr genau beobachtet. Es wirkte auf uns manchmal wie eine Überwachung. Im Lauf der Zeit kamen immer mehr Besucher in unserem extra Essensraum. Immer einzeln. Wenn schon einer da war, traute sich kein anderer zu uns. Die Gespräche verliefen oft so: Unsere Gäste erklärten, dass alles gar nicht so schlimm war. Ganz im Gegenteil. Und dann fingen sie plötzlich an, von neuen Horrorgeschichten zu erzählen. Unser Fokus war von Anfang an kein investigativer. Wir kamen nicht an, um schreckliche Geheimnisse oder sensationelle Abgründe aufzudecken. Vieles aus der schrecklichen Geschichte und von den Geschichten war bekannt und wir wollten versuchen, einige Dinge besser zu verstehen. Wie sind die sozialen und persönlichen Mechanismen, dass es zu solchen Entgleisungen kommen kann? Was macht das mit den Beteiligten? Und wie gehen die Menschen heute damit um? Matthias Zuber: Ich bin dorthin gefahren auch mit einer Menge Geschichten im Gepäck. Ich rechnete damit, dass wir abgehört werden in unserer Unterkunft. Wir schliefen im ehemaligen Krankenhaus, in dem auch gefoltert wurde und in dem Menschen getötet worden sein sollen. Ich konnte die ersten Nächte schlecht schlafen, hatte seltsame Albträume. Die ersten Kontakte mit den Bewohnern waren von ihnen aus höflich zurückhaltend bis ablehnend. Wir waren in einer seltsamen Position. Zum einen wollten wir unseren Film machen, zum anderen war uns klar, wenn wir zu kritisch, zu offensiv auftreten, werden uns die Menschen nicht akzeptieren und uns rauswerfen. Wir waren die ersten Tage und Wochen sehr selbstkontrolliert, versuchten jeden eigenen Satz, jede Geste so zu sehen, wie sie unsere Gastgeber wahrnehmen hätten können. Wir kamen so in eine ähnliche Situation wie die Bewohner der ehemaligen Colonia Dignidad selbst. Durch dieses absolute Spitzelsystem der Sekte, entstand bei den Bewohnern zum einen ein extrem selbstreflektierendes Verhalten auf einer bestimmten Ebene. Viele Menschen, die uns begegneten hatten eine ungeheuere Fähigkeit, unsere Stimmung wahrzunehmen und darauf einzugehen. Andererseits hatten sie die Fähigkeit einem Dinge zu erzählen, die man erwartete. Ein ehemaliges Sektenmitglied sagte, dass dieses Leben die eigene Persönlichkeit vernichtet hätte. Wir konnten durch diesen kleinen Erfahrungsspalt ahnen, wie das funktionieren kann.

 Wie kam es dann zur Zusammenarbeit mit ihren Protagonisten?

Martin Farkas:  Das fing sehr einfach an. Wir hatten bei den ersten Spaziergängen festgestellt. Die ungewöhnliche Topografie des Geländes lässt sich kaum mit festen Totalen wiedergeben. Also begannen wir einen Dolly, einen Kamerawagen zu bauen. Das Material dafür kauften wir in der Provinzhauptstadt und ließen uns dabei von Kurt Schnellenkamp, dem ehemaligen Stellvertreter Schäfers und wirtschaftlich Verantwortlichem helfen. So lernten wir ihn näher kennen. Und bei den Schweissarbeiten in der riesigen 60er-Jahre-Werkstatt half uns Herr Spatz und Rüdiger Schmidtke, mit dem so ein erster freundschaftlicher Kontakt über das gemeinsame Arbeiten entstand. Wir begannen die Leute bei der Arbeit zu filmen, in ihrem Alltag und ließen uns viel Zeit dafür. Es gab viele Gespräche ohne Kamera. Mehr und mehr haben sich geöffnet. Vielleicht bekamen die Menschen in der Villa den Eindruck, wir interessieren uns umfassender für sie, als sie bisher von der Weltöffentlichkeit wahrgenommen worden waren. Deshalb ließen sich vielleicht einige auf unser Projekt ein. Matthias Zuber: Wie Martin sagte, wir hatten uns sehr viel Zeit genommen. Auch damit uns die Menschen kennenlernen können. Im Laufe dieser Zeit entwickelten sich Beziehungen zu dem einen oder anderen - zu manchen durchaus freundschaftliche. Zu Aki und Rüdiger entstand so etwas wie eine Freundschaft. Wir redeten mit ihnen dann auch sehr offen über unsere Eindrücke und Gefühle. Mit Akis Familie feierten wir sogar zusammen Silvester. Ganz privat ohne Kamera. Aki kam - denke ich - auf uns zu aus der Angst, dass wir die Mauer des Schweigens, die die Colonia noch immer umgibt, nicht durchbrechen können. Rüdiger erlebte ich - gerade in Anbetracht seiner eigenen Geschichte - als extrem offen und herzlich. Wir kamen sehr schnell miteinander ins Gespräch und der Kontakt intensivierte sich. Zu Kurt Schnellenkamp, der eher zu den Tätern gehört, war der Kontakt sehr schwierig. Wir trafen uns sehr oft, führten relativ schnell Interviews vor der Kamera. Wir legten aber auch bei ihm sehr viel Wert darauf, ihn nicht vorzuverurteilen, was uns im Team unterschiedlich schwer fiel. Wir wollten ihn nicht als „den Täter“ vorführen. Als sozusagen „das Böse“, das alle anderen entlastet. Wir wollten erfahren, was ihn getrieben hat. Wir stießen bei Kurt Schnellenkamp an Grenzen. Und dennoch habe ich für mich aus den Gesprächen mit ihm viel erfahren. Die Konstruktion eines konsistenten Selbstbildes unter Bedingungen von Absolutheit, Diktatur oder fundamentalistischer Religiosität frisst die eigentliche Person und all ihre Emotionen.

 Sie waren über zwei Monate in der ehemaligen Colonia Dignidad. Sie haben mit den Menschen dort Tür an Tür gelebt. Hatten Sie keine Berührungsängste gegenüber  potentiellen Mördern, Folterern und Waffenhändlern?

Matthias Zuber: Hätte ich Berührungsängste gehabt, hätte ich nicht diesen Film gemacht. In Ihrer Frage liegt so etwas moralisch Wertendes. So nach dem Motto: wie konnten Sie nur!?! Das Spannende an dem Projekt ist ja gerade, sich dem auszusetzen, mit potentiellen Mördern, Waffen- und Drogenhändlern, Päderasten Tür an Tür zu wohnen. Ich lebe in Berlin Kreuzberg und bin sicher, dass ich dort mit wesentlich mehr Kriminellen jeglicher Couleur Tür an Tür wohne. Das Besondere und Interessante in der Villa Baviera ist der Kontext. Diese Menschen haben alle eine gemeinsame Geschichte, die sie nicht nur verbindet, sondern sogar fesselt, sie unfrei macht. In dem Moment, in dem wir zu ihnen kamen, waren sie sich dessen bewusst. Sie wussten - jedenfalls die meisten - dass sie benutzt wurden, dass sie sich schuldig gemacht haben. Wie geht man in so einer Situation mit sich, seinem Opfersein, seinem Tätersein um? Es ist ein Moment enormer innerer Bewegung. Ein dramatischer Moment. In Kreuzberg spüre ich um mich herum keine große innere Bewegung. Da sitzen die Verhältnisse fest. Aber in der Villa Baviera war emotional unter der gefroren Oberfläche viel in Bewegung. Und etwas von dieser Bewegung spürbar zu machen, das haben wir mit „Deutsche Seelen“ versucht. Martin Farkas: Natürlich hatten wir auch große Ängste und Skrupel. Wir wussten zum Beispiel, dass alle Zimmer früher über die Lautsprecheranlagen und zum Teil durch versteckte Mikrofone abgehört wurden. Wir wussten nicht, wieweit die Technik noch in Betrieb war und benutzt wurde. Deshalb führten wir zu Beginn halbherzig „konspirative“ Gespräche. Gingen spazieren, wenn wir über unsere Eindrücke in der Villa sprachen. Es gab komische, versteckte Drohungen - wie wir es empfanden. Einmal sagte einer, ob wir nicht Angst hätten, dass morgen wieder die Tore geschlossen werden und wir nicht mehr wegkommen. Das mag ein Witz gewesen sein, aber wir empfanden das doch auch irgendwie bedrohlich. Aber vor allem waren die Menschen selbst sehr zurückhaltend, sehr vorsichtig. Jenseits der persönlichen Sympathie oder Antipathie, die weniger als erwartet mit der moralischen und juristischen Schuld des einzelnen zusammenhängt, wollten wir diese Menschen kennen lernen. Natürlich bleibt ständig die Frage: Inwieweit relativierst du das, was hier passiert ist, indem du interessiert nachfragst und den Alltag mit den Menschen teilst? Das heisst; mit ihnen isst, mit ihnen auch lachst. Und natürlich gab es die Frage nach einem langen, nächtlichen Gespräch, wo uns jemand von widerwärtigen Quälereien und absolut verabscheuungswürdigen Praktiken erzählte, ist es nicht besser, all diese Dinge hier der Justiz zu überlassen und zu gehen? Demgegenüber stand der Wunsch der Menschen, mit denen wir langsam, sehr mühsam ins Gespräch gekommen waren, als komplexe Personen und nicht nur als „Opfer“, als „Täter“ wahrgenommen zu werden.

 Haben Sie jetzt nach Abschluss der Produktion noch Kontakte zu Menschen aus der ehemaligen Colonia Dignidad?

Martin Farkas: Ja, mit einigen telefoniere und maile ich regelmäßig. Für mich unerwartet sind da auch persönliche Beziehungen entstanden. Zu einigen mehr, zu anderen weniger. Wir werden bald mit dem Film dorthin fahren und ihn vorführen. Matthias Zuber: Vor ein paar Monaten war Aki in Deutschland. Es war das erste Mal seit über 40 Jahren, seit er als Baby in die Colonia gebracht wurde, dass er in Deutschland war. Es war - glaube ich - sehr spannend für ihn. Er hat mich unter anderen in Berlin besucht und blieb ein paar Tage. Ich unternahm mit ihm und meinem Sohn eine Radtour durch die Hauptstadt. Er besuchte auch Martin in München.

 Der Film beginnt sehr leise - auch im übertragenen Sinn. Erst im Laufe beschreibt er den Horror der Colonia Dignidad. Wobei Sie auf einige dokumentierte Gräueltaten und Verbrechen kaum eingehen. Warum?

Matthias Zuber: Das ist eine gute Beobachtung. Es stimmt; wir hauen nicht gleich am Anfang auf die große Horrorpauke. Das liegt daran, dass unser Fokus nicht auf der Dokumentation, der dort begangenen Gräueltaten liegt. Da gibt es einen großartigen Film von Gero Gemballa von 1989 mit dem Titel „Colonia Dignidad - Das Dorf der Würde“. Uns interessiert die Frage: Was macht ein gewalttätiges, totalitäres Regime mit Menschen? Und wie gehen die nach dem Ende dieses Systems mit ihrer Geschichte, ihren Traumata, ihrem Tätersein, ihrem Opfersein um? Deshalb kommen die Verbrechen der Colonia nur insofern in dem Film vor, so weit wir diese benötigen, um die Situation der Menschen zu beschreiben, die wir begleiten. Es ging uns nicht um Vollständigkeit des Grauens oder um eine Aufzählung verschiedener begangener Verbrechen. Für uns stehen die Menschen - Opfer wie Täter - im Mittelpunkt. Die Arbeit an dem Film hat mein Selbstbild in mehrerlei Hinsicht erschüttert. Zum einen halte ich es tatsächlich inzwischen für möglich, dass ich aktiv an einem Unrechtssystem beteiligt sein kann. Zum anderen - denke ich - ist es schwer nach einer derartigen menschlichen Katastrophe das Geschehene zu bewältigen, indem man in die „Guten“ und die „Bösen“ unterteilt. „Opfer“ sind in so einem System unter Umständen auch „Täter“ und viele der „Täter“ sind auch „Opfer“. Das heißt nicht, dass man deshalb die Geschichte und die Schuldfrage nicht aufarbeiten soll, sondern vielmehr, dass es eine Zukunft ohne diese Aufarbeitung nicht geben kann. Und das, schrieb Hannah Arendt, geht nicht ohne Vergebung. Denn Vergebung setzt voraus, dass die Untaten und Taten im einzelnen benannt und bekannt werden müssen. Dass die Schuld, die der Einzelne auf sich geladen hat, von ihm anerkannt und eingesehen werden muss. Das ist ein sehr schmerzhafter Prozess - gesellschaftlich wie individuell. Martin Farkas: Wie Matthias gerade gesagt hat, es geht nicht um ein umfassendes historisches, juristisches Bild der Colonia Dignidad. Um die Sensation. Sondern um den Versuch, Menschen, die so eine Geschichte einerseits erlitten, aber eben auch mitgestaltet haben, besser zu verstehen in ihrem abhängigen Handeln und zu beobachten, wie sie ihre Gegenwart zu meistern versuchen - auf eine vielleicht „typisch deutsche“ Weise.

 Die chilenischen Opfer beispielsweise bleiben fast ganz Aussen vor. Verharmlosen Sie nicht mit dieser Art des Erzählens und des Aussparens das politische und kriminologische Phänomen „Colonia Dignidad“?

Matthias Zuber: Noch einmal: Es ging uns nicht darum, das politische und kriminelle Phänomen zu skizzieren. Dafür gibt es andere Filme, andere Projekte. Es ging uns auf der konkreten Ebene des Films auch nicht vordergründig um Phänomene, sondern viel eher um Menschen und Schicksale in einer historisch einmaligen, aber übertragbaren Situation. Martin Farkas: Ich sehe schon die Gefahr, die unser Fokus mit sich bringt. Die Gefahr der Verharmlosung ist immer da. Wir haben uns mit den heute in der Villa lebenden Menschen  beschäftigt und wir haben im Film versucht, die Verantwortlichkeit für die Verbrechen auch gegen die chilenische Bevölkerung aus der ungeheuren Verdrängung zu lösen, die dort vorherrscht. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: Nicht die Sensation auszustellen und voller Empörung und eben auch mit Genugtuung, weil man meint „besser“ zu sein, darauf zu deuten. Sondern es ist der Versuch, in das Wesen, in die Mechanik des so genannten „Bösen“ vorzudringen. - Und uns vielleicht auch selber darin zu finden. Das ist natürlich erst einmal unbefriedigend, weil es irritierend ist und weil da, wenn der Film zu Ende ist, eben nicht so leicht der innere Frieden wieder hergestellt werden kann. Aber dieser Prozess der Erkenntnis ist notwendig, ist sogar Voraussetzung für Entwicklung und für eine wann und wie auch immer geartete Heilung. Und ich hoffe, dass der Film dadurch in einem tieferen Sinn das politische und kriminelle Phänomen Colonia Dignidad wahrnehmbar macht. Und damit auch den chilenischen Opfern gerecht wird.

 Ihre Protagonisten sind mit Ausnahme von Kurt Schnellenkamp, der zeitweise als Stellvertreter Schäfers fungierte, allesamt „Opfer“, so wie sie in Ihrem Film dargestellt werden. Aki sagt in einem Interview: „Ich bin nicht schuld. Die sind schuld!“ Wie realistisch ist dieses Bild in einer Sekte, die nachweislich gefoltert und gemordet hat?

Martin Farkas: Ich denke, dass genau dieses von Ihnen beschriebene Aufbegehren von Aki der notwendige Anfang ist, überhaupt wieder ein moralisches System zu entwickeln, das dort systematisch aufgelöst worden war. Sein Aufbegehren steht ja in einem Kontext. Er akzeptiert nicht, dass die „Täter“ mit einem kollektiven Schuldeingeständnis die Vergangenheit als bewältigt deklarieren wollen. Ich sehe das auch anders, dass alle als Opfer dargestellt wurden. Wir sind das Wagnis eingegangen, unsere Protagonisten vor allem als Menschen zu zeigen, in der Hoffnung damit unsere Einschätzung deutlich zu machen, wie nahe das „Böse“ uns allen ist. Matthias Zuber: Das wäre, wenn der Film so funktioniert, wie Sie das gerade beschrieben haben, fatal. Ich sehe den Film anders. Ich lerne in „Deutsche Seelen“ Menschen kennen, die aus einem totalitären System kommen und die darum kämpfen nach dem Zusammenbruch dieses Systems weiterzuleben. Sicher ist Aki und Rüdiger mehr „Opfer“ als Kurt. Es geht uns um Momente wie dem, in dem Kurt sagt, dass sein Gelübde ihm mehr bedeutet als die sexuelle Unversehrtheit seiner Kinder. Oder in dem Rüdiger sagt, dass er jetzt ein wenig mehr Mann geworden sei. Es sind diese Momente, die - meiner Meinung nach - das Wesen und die Auswirkungen von totalitären Systemen emotional spür- und erfahrbar machen. Darin liegt - hoffentlich - die Qualität des Films.

 Die ehemalige Sekte und das Ausmaß der dort begangenen Verbrechen erscheint monströs und historisch einmalig. Sich so ein Phänomen zum Thema für einen 90-minütigen Dokumentarfilm zu nehmen, ist da Scheitern nicht vorprogrammiert ...?

Martin Farkas: Natürlich!

Matthias Zuber: Wie ich bereits sagte: Für mich ist die Geschichte der Colonia eine Folie, auf der „Deutsche Seelen“ in kleinen, stillen Momenten das Wesen und die Auswirkungen von totalitären Systemen emotional spür- und erfahrbar macht. Es geht mir um die emotionale Qualität. Es geht mir um Empathie für die Protagonisten. Auch für Kurt Schnellenkamp. Mir persönlich läuft es kalt über den Rücken, wenn ich Kurt Schnellenkamps Blick auf seinen Enkel sehe bei dem Familienpicknick. Mich gruselt die Kälte, aber gleichzeitig sehe ich, was in dem Mann alles gestorben sein muss. Ich sehe diesen unheimlichen Verlust der Menschlichkeit in diesem Blick und in mein Gruseln mischt sich tiefe Trauer für diesen alten Mann.

 Was kann dann ein Dokumentarfilm leisten in Anbetracht eines solchen Themas? Martin Farkas: Vielleicht kann er das monströse Unbeschreibbare wieder herunterholen in kleinen Schritten, von dem Berg, auf den es geschafft wurde, damit wir das, was uns dabei an uns erinnern könnte, nicht ansehen müssen. Matthias Zuber: Es geht mir bei diesem Film um genau diese Ambivalenz, das Kippen von Gewissheiten und Klischees. Wenn ich vom Gruseln in Empathie falle, wie ich das gerade beschrieben habe. Der Schriftsteller Dieter Wellershoff hat einmal gesagt, dass die Aufgabe der Literatur sei, den Menschen Erfahrungen zugänglich zu machen, die sie sonst in ihrem Leben nicht haben können. Das erweitert deren Horizont. Diesen Anspruch habe ich auch an einen Film. Ein Film soll mir einen neuen Erfahrungshorizont öffnen. Mir - wenigstens fragmentarisch - Erfahrungen zugänglich machen, die mir in diesem Fall glücklicherweise erspart geblieben sind. Ich denke, der Film hat diese Momente, in denen ich solche Erfahrungen machen kann und das ist, wenn das passiert, seine Leistung.

 Wie übertragbar, glauben Sie, sind die Mechanismen, die in der Colonia Dignidad, angewandt wurden, um die Menschen gefügig zu machen und sie zu motivieren, an Folterungen teilzunehmen?

Matthias Zuber: Sehr - fürchte ich. Menschen sind recht leicht dazu zu bringen, andere zu foltern oder zu töten. Sich dessen sicher zu sein - auch für sich selbst - und das Bewusstsein darüber, dass ich ein gewalttätiges Wesen bin und der aktive, bewusste Umgang damit, kann mich vielleicht vor einem derartigen Fehlverhalten schützen - vielleicht. Wie anfangs gesagt: „Das Unbewusste ist nicht geheimer Widerstand gegen das Gesetz, es ist das Gesetz selbst“. Martin Farkas: In seiner Hermetik des Systems, ist die Colonia Dignidad sicher sehr außergewöhnlich und es gab sicher viele schreckliche, historische und politisch „günstige“ Bedingungen, damit so etwas entstehen konnte. Aber in der Mechanik des Ganzen besteht es doch aus lauter einzelnen Schritten, die leider zutiefst menschlich und natürlich auch heutig sind!

 Was ist für Sie das „Deutsche“ an dem Phänomen „Colonia Dignidad“?

Martin Farkas: Ich bin selber Deutscher und sicherlich zu wenig distanziert, um darüber mit dem nötigen Abstand zu sprechen. Allerdings habe ich hier bestimmte Haltungen zur Pflichterfüllung, Ordnung, Arbeit, Anpassung, gefunden, die ich mehr in Deutschland als in anderen Ländern finde. Diese Haltungen können natürlich auch große Stärken sein, können aber eben auch im Negativen hilfreich sein, so ein geschlossenes, extrem destruktives System aufzubauen, wie es so in Deutschland im großem Stil im Dritten Reich geschehen ist. Matthias Zuber: Für mich ist das Deutsche an dem Phänomen „Colonia Dignidad“ das Romantische, das Schwärmerische, dieser philosophische Populäridealismus, der ins Grauen, das Morden und Foltern kippt. Dieses Dunkel hinter all den Gedanken, die so hehern schweben über der Welt, die Bezüge ins Erhabene konstruieren und an denen dann doch Blut klebt. Das ist eine Welt die gruselt, die aber vertraut ist. Das Deutsche ist für mich in diesem Fall das „Unheimliche“ im Freudschen Sinne: das einstmals heimisch Vertraute, das verdrängt wurde.

 Ihr Film thematisiert indirekt die Frage nach dem „Bösen“ und inwiefern es taugt zur Beschreibung historischer und sozialer Vorgänge. Haben Sie selbst eine Antwort auf diese Frage bekommen, bzw. hat sich Ihre Sicht durch die Arbeit an dem Film auf die Frage verändert?

Martin Farkas: Meine Vorstellung des Bösen war schon vor dem Projekt keine, als etwas dem Menschen Äußerliches. Diese Sicht hat sich sicherlich bestätigt. Allerdings geht mir ein Zitat aus dem Theaterstück „La muerte y la doncella“ von Ariel Dorfman in seiner Drastik nach, das Matthias in eine unserer vielen Diskussionen einbrachte. Da sagt ein argentinischer Arzt, der der Folterung überführt ist, auf die Frage, warum er gefoltert und vergewaltigt hat, einfach nur: weil es möglich war. Matthias Zuber: Das scheint banal, ist aber wohl tatsächlich der tiefe Grund. Menschen tun Menschen furchtbare Dinge an, eben wenn es möglich ist.

 Wie, denken Sie, werden die Bewohner der ehemaligen Colonia Dignidad auf den Film reagieren?

Martin Farkas: Zuerst einmal wohl enttäuscht. Wütend auf die, die sich geäussert haben. Aber vielleicht werden sie es auch als Chance erleben, weiter über das zu sprechen, was mit ihnen passiert ist. Dr. Schwember, der chilenische Regierungsbeauftragte, spricht im Interview von der „Black Box“. Vielleicht werden sie die irgendwann langsam, langsam öffnen, um die juristische Aufarbeitung möglich zu machen und um wieder unterscheiden zu lernen.